Residenztheater München mit Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab
Die Arbeit in einem analogen Fotolabor erfordert ein hohes Maß an Präzision: Trifft zu wenig Licht auf das Fotopapier, ergibt das ein flaues, diffuses Bild, zu viel Licht sorgt für ein einziges Dunkel. Mit dem starken Bild eines Fotolabors, das mit dem langsamen, viele Arbeitsschritte erfordernden Vorgang des Entwickelns auch eine schichtweise Erinnerung freisetzt, die auf dem Fotopapier erscheint, endet die ebenso äußerst präzise gearbeitete Inszenierung „Erinnerung eines Mädchens“ am Münchner Residenztheater.
Sommer 1958: Die junge Annie Duchesne, gerade 18 Jahre alt geworden, arbeitet als Betreuerin in einer Ferienkolonie, zum ersten Mal fern ihres kleinbürgerlichen Elternhauses. Die erste sexuelle Erfahrung mit H., dem Chefbetreuer, löst einen anhaltenden Schock aus. H. ignoriert sie fortan, sie lässt sich aus Verzweiflung mit anderen ein, wird recht schnell verhöhnt und verfemt und schafft es erst Jahrzehnte später, sich der Macht, Ohnmacht und Unterwerfung bewusst zu werden und sich der „Erinnerung der Scham“ zu stellen. Eine emanzipierte Sicht auf das eigene, jüngere „Ich“.

Die französische Autorin Annie Ernaux, die in Deutschland erst recht spät entdeckt wurde und in diesem Frühjahr mit dem 13. Würth-Preis für Europäische Literatur geehrt wird, taucht in ihrem beklemmenden Prosastück tief ein in die eigene Erinnerung, die immer auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Fünfundfünfzig Jahre lang hat sie gebraucht, um ihr eigenes Erleben literarisch zu verarbeiten, wobei es ihrem Schreiben eigen ist, sich Schicht für Schicht den komplexen Umständen zu nähern, die 1958 zu den Ereignissen in der Ferienkolonie führten, die Ernauxs Leben fortan entscheidend prägten. Und immer der Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Erinnerung, die Ernaux‘ Text so aufwühlend machen.
Regisseurin und Ausstatterin Silvia Costa hat diesen fragmentarischen Ansatz, zu dem auch gehört, dass Ernaux mit großer Distanz vom „Mädchen von 1958“ spricht, mit großer Sensibilität auf ihre Inszenierung übertragen, in dem sie den Text gleichmäßig auf drei Frauen aufteilt.
Die Bühne, ein großer dunkelblauer Kasten, ist anfangs fast leer. Die Schauspielerinnen, über die knapp anderthalb Stunden ständig in Bewegung, tragen Objekte hinein. Fragmente wie die des Erzählens: Es werden Seile gespannt, Steine, in Gips gegossene Körperteile und Unterwäsche drapiert, transportable Spiegel zum Eintauchen in die Erinnerung genutzt. Objekte, die wie Zitate aus längst vergangener Zeit wirken.
Silvia Costa kann mit Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab auf drei erstklassige Schauspielerinnen aus dem Ensemble zurückgreifen, die den eher nüchternen Text mit einer atemberaubenden Intensität zelebrieren. Unaufgeregt, in ruhigem, klarem Sprechduktus, sich einander versichernd, sich richtig zu erinnern. Dabei ist jede bei sich, und dennoch gibt es einen fast zärtlichen, fast tänzerischen Umgang miteinander, bei dem jede Geste stimmt.
Im Marstall, einer der drei Spielstätten des Bayrischen Staatsschauspiels, ist man nah dran am Bühnengeschehen, was die Intensität umso mehr verstärkt.
Die in den Grundfarben gehaltenen Kostüme (Rebekka Stange) mit roter, gelber und blauer Strickjacke geben dem Erzählen eine Allgemeingültigkeit. Das Mischen der Farben in all ihren Nuancen, die Abstufung, das Einordnen und die eigene Betroffenheit – und die stellt sich definitiv ein! – kann so in den Köpfen des Publikums passieren.
Die richtige Belichtung eines Fotos kann sich mit einer Belichtungsreihe ergeben. Streifen für Streifen gibt man Licht auf das Fotopapier, so dass der am besten ausgeleuchtete Abschnitt ausgewählt werden kann. So einfach wie im analogen Fotolabor funktioniert die eigene Erinnerung schlussendlich nicht. Am Ende entscheidet vor allem auch der Bildausschnitt über die Erinnerung. Die drei Schauspielerinnen kleben unterschiedlich gewählte Vergrößerungen des Porträts der Autorin an eine Plexiglasscheibe. Von der jungen Frau auf dem Schwarz-Weiß-Foto bleibt ein großes Auge übrig.
Ende eines nahegehenden, großartigen Theaterabends!
Ergänzt wird die Inszenierung von drei Schaukästen im kleinen Foyer des Marstalls. Hier haben Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab unkommentierte eigene persönliche Objekte beigesteuert: Hier ein riesiger Stapel Luftpost-Briefe, dort eine leere Keksschachtel, eine abgeschnittene Haarsträhne oder eine leere Tablettenbox. Objekte, die unwillkürlich eigene Erinnerungen in Gang setzen…
Fotos: Sandra Then
Infos & weitere Vorstellungstermine:
https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/erinnerung-eines-maedchens